Flucht und Vertreibung
Juli 2016
Eva Herman
wo sie aNeulich lernte ich ein jüngeres Ehepaar kennen, beide etwa Mitte dreißig. Sie leben seit zwanzig Jahren in Deutschland, geboren wurden sie in Kasachstan. Ich traf sie im Nordosten Kanadas,uf der Suche nach einer neuen Heimat sind. „Warum?“, wollte ich wissen. Traurig entgegneten sie, dass ihre Sorge täglich größer werde, was Sicherheit und Zukunft in Deutschland angeht. Man müsse die Zeichen der Zeit erkennen und rechtzeitig die richtigen Entscheidungen treffen, lautete die Antwort: „Wir haben schon einmal unsere Heimat verloren, als sogenannte Spätaussiedler hatten wir damals keine Ahnung davon, wie sich Deutschland einmal entwickeln würde.“
Auch ihre Vorfahren, sogenannte Wolgadeutsche, konnten ein Lied von Flucht und Vertreibung singen, viele hatten die Deportation nach Sibirien nicht überlebt. Die Erfahrungen ihrer Ahnen stecken den beiden offenbar tief im Blut. Sie sprechen viel von dem Gewesenen, um nur immer wach zu bleiben. Das Paar hat mehrere kleine Kinder, deren Schutz sie schon mittelfristig nicht mehr gewährleistet sehen. „Wir müssen weg hier, bevor Krieg ausbricht und wir abermals vertrieben werden!“
Das Schicksal dieser Familie beschäftigt mich. Die beiden jungen Leute sind fleißig und erfolgreich. Sie führen ein Geschäft, bauen ihr eigenes Obst und Gemüse an, wecken im Sommer ein, dörren die Früchte oder kochen Marmelade und Sirup. Im Keller lagern Äpfel und Kartoffeln, sie kennen Rezepte, von denen ich noch nie etwas gehört habe. Der Mann ist Handwerker, seine Frau kann nähen, stopfen, stricken. Ja, sie können wohl gut überleben, selbst wenn das System eines Tages nicht mehr das hergeben sollte, was die fortschrittlichen Wirtschaftsstrukturen uns heute noch so alles bieten. Die beiden lernten im Laufe ihres jungen Lebens, wie man Krisenzeiten am besten übersteht. Sie leben heute so, wie es unsere Großeltern auch noch taten.
Unsere Großeltern! Erinnerungen steigen hoch, die plötzlich heftige Rührung auslösen. Auch sie hatten Flucht und Vertreibung erlebt. Doch was wissen wir davon? Wie wenig hatten wir, die Nachkommen, von ihren Sorgen und Ängsten verstanden, die doch so stark ihr Leben geprägt hatten. Da war meine Großmutter, die in manchen Abendstunden von ihrer Kindheit in Westpreußen erzählt hatte. An einem herrlichen Fluss hatten sie gelebt, als Kinder hatten sie im Sommer in der Weichsel gebadet, waren durch grüne Wiesen und Wälder gestreift, eng verbunden stets mit der Schöpfung wunderbarer Natur. Probleme und Sorgen hatten die Kinder nicht gekannt, obwohl die Kriegswirren ihre Spuren hinterlassen und das Leben verändert hatten. Und dann, eines Tages, mussten sie fort aus der geliebten Heimat, über Nacht waren sie geflüchtet und hatten alles hinter sich gelassen, was ihnen einst etwas bedeutet hatte.
Nein, als Kind konnte ich dies alles nicht verstehen, auch wenn Großmutters Tränen unaufhörlich über die Wangen rannen, während sie uns an ihren Erinnerungen teilhaben ließ. Verstohlen sahen wir Kinder uns dann an, die Alten eben, ja, ja. Aber heute?
Und dann war da Großvater, aus Königsberg stammte er, wo schon seine Eltern eine Brotfabrik besaßen, die er weitergeführt hatte. Ein angesehener Mann musste er wohl gewesen sein, damals in Ostpreußen, als die Welt noch in Ordnung war. Doch auch er wurde vertrieben, auch er verließ seine Heimat, verlor alles, was seine Vorfahren und er mit ihrer Hände Arbeit erwirtschaftet hatten.
Der Opa sprach nur selten von dieser Zeit, heute weiß ich, dass der Schmerz über das Verlorene ihm die Brust häufig zugeschnürt haben musste. Dann war da auch noch eine angeheiratete Großtante, eine Sudetendeutsche, aus einer erfolgreichen Architektenfamilie stammend, die ihre Spuren bis heute bewahren konnte in so manch stattlichem Gebäude der tschechischen Hauptstadt Prag. Wenn sie heute noch von der Flucht erzählt, bei der sie, zusammen mit ihrer Schwester, mehrere Tage in einer zugenagelten Kartoffelkiste gekauert hatte, um nicht entdeckt zu werden, dann beginnt man zu begreifen, was die Worte Flucht und Vertreibung im eigentlich Sinn bedeuten können. Der Vater hatte die Kinder damals eigenhändig in die Kiste gesetzt, hatte diese mit Dutzenden Nägeln verschlossen, er hatte so das Leben der Töchter gerettet. So manche Menschen, die eigentlich zu den sogenannten Feinden gehört hatten, hatten später ihre helfende Hand nach ihnen ausgestreckt, sie gehalten, ernährt, ihnen weitergeholfen, als die Kinder alleine durchmussten. „Immer kam jemand im letzten Augenblick, um uns aus der Not zu retten, sonst wären wir damals wohl gestorben. Der liebe Gott hatte die ganze Flucht über seine Hand über uns.“
Flucht und Vertreibung. Was wissen wir davon, wir, die wir bislang weitgehend in Frieden und Wohlstand leben durften? Es ist offenbar viel zu wenig, wie wir nun an den russischen Freunden erkennen dürfen. Denn sie sind wach! Während viele von uns den gewaltigen Herausforderungen, die uns nahen, träge entgegenschlummern. Diese beiden Menschen erkennen die Drangsal, die ihnen und ihren Kindern jetzt droht, und sie sind sich einig. Sie spüren schon lange, dass da etwas Dunkles, Diffuses, im Anmarsch ist, das die alten Lebensregeln aussetzen und neue Fakten schaffen wird. Das Bevorstehende erkennen sie als Lebensgefahr.
Ihr Umfeld versteht sie nicht, die meisten Leute fassen sich an den Kopf, wenn die Zwei ihre Bedenken äußern. Scheint wohl mit der schwermütigen, russischen Seele zu tun zu haben, meinen einige Spötter. Das Paar sieht sich um in Kanada. Können sie sich hier ein neues Leben vorstellen? Ja, da sind die riesigen Wälder, deren hoher Bäume Rauschen einen ähnlichen Klang zu haben scheinen wie die wohlvertrauten, geliebten Forste damals, im beschaulichen Kasachstan. Die Gemüse-und Obstsorten, die hier auf dem nordamerikanischen Kontinent wachsen, auch sie sind vergleichbar mit denen der alten und auch ihrer letzten Heimat, die sie nun wieder verlassen werden. Das ist doch schon mal gut. Die fremde Sprache? „Ach, das ist das kleinste Problem, wir haben ja auch Deutsch gelernt.“
Es herrscht Pragmatismus, nur am Abend, in der Ruhe, kommen leise Tränen. Es geht um die Kinder, es geht um die Zukunft. So spüren sie die Stimme der Verantwortung, die in ihren Herzen immer lauter mahnt. Sie können nicht anders, sie müssen gehen. Ihre Eltern und Großeltern hätten es an ihrer Stelle auch getan.
Für diesen Sommer planen sie mit den Kindern noch eine Reise nach Königsberg. Auch ich reiste einst dorthin, auf meiner Ahnen Spuren. Unerklärlich viele Tränen. Die beiden sprechen von den alten, herrschaftlichen Gebäuden dort, von denen einige wieder in altem Glanze erstrahlen, wollen ihren Kindern die Geschichte der Deutschen, der Polen, der Russen erzählen. Vielleicht sehen sie Großvaters Haus? Ich hatte es damals nicht gefunden.
Dieser Artikel erschien zuerst in der Preussischen Allgemeinen Zeitung
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