Unsere Nachbarin sagt…
Mai 2016
Eva Herman
Unsere Nachbarin freut sich sehr, dass die Fußball-WM jetzt losgeht. Sie sagt, dass dies eine Gelegenheit zur Vertiefung der Freundschaft zwischen allen Völkern auf der Welt sei. Außerdem seien es ja echte sportliche Herausforderungen an die Nationalmannschaften. Unsere Nachbarin ist natürlich Deutschland-Fan. Sie hat jetzt unsere Hymne auswendig gelernt und wird sie vor jedem Spiel vor dem Fernseher mitsingen. Ihre sozialen Verpflichtungen hat unsere Nachbarin für die nächsten vier Wochen zurückgestellt, alle wissen Bescheid, dass sie die Fußball-EM 2016 aktiv zuhause mitgestalten wird.
Sogar ihren ehrenamtlichen Job als Helferin in der naheliegenden Flüchtlingsunterkunft lässt sie jetzt ruhen: „Es ist deutsche Bürgerpflicht, die eigene Mannschaft, wenn auch nur zuhause am Bildschirm, zu unterstützen!“ Unsere Nachbarin hat umfangreiche Vorarbeit geleistet, sie hatte die Freundschaftsspiele, die der EM vorausgingen, aufgezeichnet und analysiert. „Fußball ist ein Kriegsspiel mit Taktiken, Angriff und Verteidigung,“ hatte sie dann festgestellt. „Da wir aber in absolut friedlichen Zeiten leben, brauchen die Menschen ein solches Kriegsspiel als Ersatz, sozusagen!“ Sagt unsere Nachbarin. Sie nimmt die Sache ernst und hat kein Verständnis für jene Leute, die sich für die EM 2016 nicht interessieren wollen: „Das ist ja gerade so, als ob Deutschland im Krieg ist, und von den eigenen Bürgern keine Unterstützung bekommt.“ Natürlich hat sie gleich mehrere Deutschlandfahnen gekauft, die sie aber erst mit dem Anpfiff des ersten EM-Spiels auf dem Balkon aufhängen will. Eine Terrorgefahr sieht sie für die EM nicht, weil „Fußball nix mit Politik zu tun hat.“
Übrigens hat unsere Nachbarin auch im Mai die ganze Nacht über, als der Europäische Song-Contest 2016 in Stockholm lief, unserem Land fest die Daumen vor dem Fernseher gedrückt. Als die deutsche Vertreterin Jamie-Lee schließlich auf dem allerletzten Platz gelandet war und einige Leute plötzlich von politischer Einflussnahme orakelten, weil die Sängerin Jamala aus der Ukraine mit dem politisch anmutenden Titel „1944“ gewonnen hatte, da wurde unsere Nachbarin richtig böse. „Spiel ist Spiel, Politik ist Politik, und Musik ist Musik!“ meinte sie. Politische Botschaften hätten in der Unterhaltung nix verloren und die ESC-Manager hätten schließlich laut und deutlich gesagt, „der Song sei regelkonform.“ Das dürfe man nichts durcheinanderbringen, „sonst gibt’s schnell einen Knoten.“ Vor sowas sollten gerade wir Deutschen uns in Acht nehmen.
Unsere Nachbarin interessiert sich natürlich auch für die internationale Politik und Wirtschaft. Sie ist sehr glücklich darüber, dass „Deutschland wirtschaftlich das stabilste Land in Europa ist“, und dass „wir zum Glück schon lange aus dem Krieg raus sind“. Und sie findet es wichtig, dass „Deutschland seine Lektion gelernt hat: Natürlich müssen wir die Grenzen offenhalten und alle notleidenden Menschen reinlassen. Sie brauchen unsere Hilfe!“
Unsere Nachbarin ist übrigens nicht nur Jogi-Löw-Fan, sondern sie unterstützt die deutsche Kanzlerin, wo sie nur kann. Und unsere Nachbarin kann schon mal unangenehm werden, wenn irgendwelche Leute behaupten, Angela Merkel sei fremdbestimmt und würde jetzt, mit den offenen Grenzen, Deutschland zerstören. Dies sei ja wohl absoluter Quatsch! Auch möchte sie nichts hören darüber, dass der Islam nicht zu Deutschland gehöre: „Schauen wir uns doch um, von überall kommen die Leute her, da sind auch viele Christen und Buddhisten, nicht nur Moslems.“ Deutschland könne sowieso nicht so weitermachen wie bisher, weil „jetzt nämlich alles global ist!“ Gegen Kopftücher hat sie nichts, warum auch? Ihre Großmutter hätte schließlich auch oft ein Kopftuch angezogen, wenn es regnete. „Vor allem die Deutschen neigen manchmal zu einer Art Kleinkariertheit, die echt peinlich ist.“ Da findet sie die Linken eigentlich ganz gut, die „uns immer wieder daran erinnern, dass die typisch deutsche Rechthaberei uns schon so manchen historischen Ärger gebracht hat!“ Als neulich in der Zeitung stand, dass wohl hunderte IS-Kämpfer mit dem Flüchtlingsstrom unerkannt nach Deutschland gekommen sind, äußerte unsere Nachbarin ihr Unverständnis über die ständige Panikmache, „typisch deutsch eben!“ Doch das höre jetzt bald auf, wenn auch „andere Kulturen hier das Sagen kriegen!“
Ja, unsere Nachbarin ist inzwischen ganz firm in politischen Fragen, und sie hat da wirklich so ihre eigenen Positionen erarbeitet. So findet sie es absolut richtig, dass die Kanzlerin, angesichts dramatisch sinkender Auflagen, den Zeitungen jetzt vielleicht staatliche Unterstützung gewähren möchte. Man stelle sich nur einmal vor, es gäbe keine Zeitungen mehr. Undenkbar! Es sei eben auch typisch für den Deutschen, dass er knauserig ist: „Weil er auch im Netz alle Infos umsonst kriegt, will er kein Geld mehr für eine Zeitung ausgeben.“ Von sinkendem Vertrauen der Bürger will sie nichts hören, bislang „sind wir doch gut gefahren mit Spiegel und Stern, man muss ja nicht unbedingt die BILD lesen.“
Auch die internationale Politik ist für unsere Nachbarin kein Tabuthema. „Weil jetzt eben alles global ist, da können wir uns doch nicht einfach rausziehen.“ Dass die NATO in Osteuropa inzwischen so manche Grenzen besetzt hat und immer mehr Raketenschilde gegen Russland wendet, sieht sie als erwiesene Notwendigkeit an: „Der Russe ist nun einmal unser Feind!“ Das zeige schon die Geschichte. „Da muss man Stärke zeigen, sonst tanzt der Russe einem schnell auf der Nase herum!“
Unsere Nachbarin kann gar nicht verstehen, dass der türkische Ministerpräsident Erdogan jetzt sauer auf Angela Merkel ist, nur weil der Bundestag in seiner Armenien-Resolution letzte Woche beschlossen hatte, im Zusammenhang mit der Deportation der Armenier nach Syrien durch das Osmanische Reich im Jahr 1915 den Begriff Genozid zu verwenden. Schließlich hätten die Deutschen ja auch eine Menge einstecken müssen, meinte unsere Nachbarin, „zu Recht!“ Jeder müsse seine Suppe selbst auslöffeln, die er sich eingebrockt hat. Und Recht müsse Recht bleiben, schließlich „leben wir jetzt in einer aufgeklärten Demokratie.“ Als ich ihr sagte, dass aber auch die USA, Großbritannien und Holland sich gegen die deutsche Haltung ausgesprochen hatten, und dies nicht ganz ungefährlich für uns sei, wischte sie die Bedenken mit einer Handbewegung weg. Schließlich könnten wir froh und glücklich sein über die hart errungene „Gesellschaftsordnung der Meinungsfreiheit und Demokratie in Deutschland! Das kann uns keiner wegnehmen!“ Das müssten auch die Türken einsehen, wenn sie irgendwann in die EU wollten. „Zum Glück sind wir ja in der EU, geballte Kraft sozusagen,“ lachte unsere Nachbarin dabei wissend.
Dass immer mehr Leute sich weigern, zur Wahl zu gehen, dafür hat unsere Nachbarin übrigens gar kein Verständnis. Schließlich erhielte ansonsten immer die falsche Seite Unterstützung, meinte sie letzte Woche, als ich sie mit dem Hund traf. Als ich sie bat, mir das doch näher zu erklären, weil ich diese Floskel noch nie verstanden hatte, sah sie plötzlich auf die Uhr und musste ganz schnell weg.
Dieser Artikel erschien zuerst in der Preussischen Allgemeinen Zeitung
Bildnachweis: Von Arne Müseler / www.arne-mueseler.de, CC BY-SA 3.0 de, Zugeschnitten auf 16:9, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=890176