Die roten Kleider
Eva Herman
Wer durch Kanada fährt, der kann ihnen überall begegnen: Den roten Kleidern, am Straßenrand, in den Bäumen aufgehängt, rote Kleider, die im rauen Wind flattern und uns ihre düsteren Geschichten erzählen wollen. Halt inne, wenn du sie siehst, und lausch ihren Berichten. Gestern erblickte ich sie wieder, als ich durch ein kleines Indianer-Reservat kam. Lauf einmal den Hang empor, zwischen den baufälligen Häusern, verwahrlosten Vorgärten, vorbei an der kleinen Tankstelle und den alten, rostigen Autos, die überall herumstehen, lauf weiter, da geht es zu einer kleinen Lichtung hoch. Dort oben am Hang, da wehen sie, die roten Kleider. Es mögen wohl zwanzig sein. Kennst Du ihre unheimlichen Geschichten? Sie sind schockierend, unbarmherzig, eiskalt, Zeugen unserer rohen, willkürlichen Welt. Hör genau zu, auch wenn es Dich schüttelt, gib nur acht, was sie raunen. Denn die Geschichten, die sie erzählen, sind auch deine Geschichten.
Seit 2011 sieht man die roten Kleider überall im Land in den Bäumen hängen. Berührende Mahnmale. Jedes Red Dress erzählt von einem gedemütigten, missbrauchten, ermordeten Mädchen, von verschwundenen eingeborenen Frauen, den sogenannten Indigenous Women. Viele Vermisste, deren Spur irgendwo auf ihrem Lebensweg sich verlief im Nebel der Zeit: Sie verschwanden einfach, von ihren Angehörigen bis heute verzweifelt gesucht. Existenzen, deren Lebensdauer gewaltsam verkürzt wurde, von machtbesessenen Tätern kaltblütig entschieden. Die kanadische Künstlerin Jaime Black hatte die Idee zu dieser aufrüttelnden Aktion. Anlässlich der Zahl von damals 1200 vermissten und ermordeten Frauen, anlässlich einer beklemmenden Hilflosigkeit der Angehörigen, deren persönliche Geschichten bis heute immer noch nicht hinreichend protokolliert werden in Gesellschaft und Politik, anlässlich auch der dramatischen Kolonialisierung der First Nation, Jahrhunderte zuvor, die viel zu selten diskutiert und schon gar nicht aufgearbeitet wird, entschloss sich Jaime Black zu diesem Schritt.
Die Geschichte der Ureinwohner Nordamerikas ist lang und blutig. Ihre „Zivilisierung“, ihre „Christianisierung“ (man sollte es eher als Kirchianisierung bezeichnen, denn Christus hatte gewiss anderes vorgehabt mit den Menschen), begann vor mehreren hundert Jahren. Es war der weiße Mann, der sich auch hier mit seinen Gewehren die Welt untertan zu machen suchte, so wie fast überall auf der Erde. Er raubte den Ureinwohnern nahezu alles: Ihre Tradition, ihre Kultur, den Glauben – ihre Identität. Hatten die „Rothäute“ stets unter freiem Himmel ihre Gebete nach oben geschickt, hatten sie ihre Dialoge mit Mutter Erde und Glooskap, den wesenhaften Führern, den Elementen, stets draußen abgehalten, so sollten sie plötzlich in dunkle Kirchen gehen und einen anderen, ihnen bis dato unbekannten Gott anbeten? War denn ihr Schöpfer, der Creator, nicht für alle da? Und ihnen wurde noch mehr genommen: Das Recht auf Menschenwürde, auf Freiheit, das Recht auch auf ein Stück Erde zum Leben. Die First Nation verlor ihr Existenzrecht, wurde von einer fremden Kultur, den sogenannten Christen, im eigenen Land überrollt. Hör nur genau zu, wenn Du die Geschichte verstehen willst. Wie formulierte es der Indianerhäuptling Seathle an den Präsidenten der USA im Jahr 1855:
Wir wissen, dass der weiße Mann unsere Art und Weise nicht versteht. Das Schicksal seines Landes ist ihm so egal wie das eines anderen, da er in der Nacht kommt und vom Land nimmt, was immer er braucht. Die Erde ist nicht sein Bruder, sondern sein Feind. Wenn er den Grund erobert hat, zieht er weiter. Er lässt die Gräber seiner Väter zurück und zerstört rücksichtslos den Boden für seine Kinder. Sein Appetit wird die Erde verschlingen und nur eine Wüste zurücklassen. Der Anblick eurer Städte schmerzt die Augen der Rothäute, aber vielleicht nur deshalb, weil der Rote Mann nur ein Wilder ist und nicht versteht …
Bis in die 1990er Jahre nahm man die Kinder aus den indigenen Familien heraus, riss sie fort von ihren Müttern, Vätern, Geschwistern, Ahnen, um sie in katholischen Erziehungsanstalten zu stecken und umzuerziehen. Sprach ein Junge oder Mädchen in der Eingeborenensprache, so wurde ihm der Mund gewaltsam mit Seife ausgewaschen. Die Kinder wurden schwer misshandelt, missbraucht, sie wurden systematisch gebrochen. Zahllose Selbstmorde kennzeichnen bis heute das Bild, Alkohol und Drogen sind die trostlosen Begleiter vieler Menschen in den Reservaten geblieben. Sie benebeln sich, um mit dieser erniedrigenden Existenzform irgendwie klarzukommen. Immer noch werden sie häufig wie Menschen zweiter Klasse behandelt.
Als Jaime Black gefragt wurde, warum es rote Kleider sind, mit denen sie die Menschen aufzurütteln versucht, antwortete die Künstlerin: „Rot ist eine sehr starke Farbe in indigenen Gemeinschaften. Es ist die Farbe des Lebens – und des Blutes. Es ist eine heilige Farbe. – Und Rot stellt die Gewalt dar, mit der diese Frauen konfrontiert sind.“ Viele Menschen fühlten sich nun von den Kleidern verfolgt, so die Künstlerin. Sie fühlten sich durch ihre Anwesenheit bewegt. „Es sind Orte, an dem diejenigen erreicht werden können, die möglicherweise nicht wissen, was vor sich geht, und es bietet einen Raum für Menschen, die Gewalt erfahren, und so ihre eigenen Geschichten mit anderen teilen können.“
Als Indianerhäuptling Seathle damals zum Präsidenten der USA sprach, sagte er auch:
Der große Häuptling in Washington lässt uns wissen, dass er unser Land kaufen will. Er sagt uns dazu Worte der Freundschaft und des guten Willens. (…) Wir werden uns aber euer Angebot überlegen, da wir wissen, dass, wenn wir es nicht tun, der weiße Mann vielleicht kommen mag, um uns unser Land mit Hilfe von Gewehren wegzunehmen (…) Meine Worte sind wie die Sterne, sie gehen nicht unter: Wie kann man den Himmel kaufen oder verkaufen – wie die Wärme des Landes? Diese Idee scheint uns sehr merkwürdig. Wir besitzen auch die Frische der Luft und das Glitzern des Wassers nicht! Wie könnt ihr sie da von uns kaufen? Jedes Stück dieses Bodens ist meinem Volk heilig. Jede schimmernde Kiefernnadel, jedes sandige Ufer, der zarte Dunst in der Dunkelheit der Wälder, jede Lichtung und jedes summende Insekt ist der Erinnerung und dem Erleben meines Volkes heilig.
In Deutschland hängen übrigens noch keine roten Kleider in den Bäumen. Noch ist niemand auf diese Idee gekommen. Warum auch? Ist doch alles in Butter. Dem weißen Mann geht’s gut. Der weißen Frau auch. Oder? Pass nur genau auf, achte auf die Zeichen. Auch in Deutschland verschwinden nun fast täglich Frauen. Auch in Deutschland werden Mädchen einfach vergewaltigt, missbraucht, gequält, ermordet. Auch hier geben die amtlichen Protokolle nur wenig wieder von dem Schmerz der Angehörigen, werden die Geschichten der Seelenqualen verschwiegen. Auch anderes passiert jetzt in diesem Land, was fast unerklärlich ist. Ist es Karma, das uns nun ereilt? Schlägt das Pendel zurück? Die verheerende Geschichte Nordamerikas dauert schon hunderte Jahre. Viel Blut ist seitdem geflossen, viel Herzeleid verursacht worden. Und es geht bis heute. Eine lange, furchtbare Zeit. In Europa geht es jetzt erst los.
Bildnachweis: Ted McGrath / Flickr (CC BY-NC-SA 2.0)
.