Teil 10: Zerstörung der Familie
Eva Herman
Sicher ist: Die Ehe wird nicht mehr automatisch mit Kindern verbunden. Und selbst die Mutterschaft ist nicht mehr selbstredend an eine feste Partnerschaft geknüpft. In ihrer Hilflosigkeit beschließen immer mehr Frauen, Kinder zu bekommen, ohne einen Ehemann oder eine längerfristige Bindung zu haben. Ein zukunftsfähiges Modell? Wohl kaum. Auch wenn die Prägung durch den Fortpflanzungswunsch einen hohen Variantenreichtum von Familienstrukturen in unterschiedlichen Kulturen erzeugt hat. Während sich in unserer westlichen Gesellschaft die Einehe durchgesetzt hat, sind uns aus anderen Völkern auch die Vielehe (Polygamie), die Vielweiberei (Polygynie) oder auch die Vielmännerei (Polyandrie) bekannt. Der Grund ist immer der gleiche: ideale Bedingungen für möglichst viele Nachkommen zu schaffen und die Frauen zu versorgen.
Nicht alles, was uns dabei primitiv oder rückständig erscheint, ist es auch. Obwohl uns beispielsweise die Lebensform des orientalischen Harems tief befremdet, weil wir ihr von vornherein die Unterdrückung und Entwürdigung der Frau unterstellen, kann man auch etwas ganz anderes daran ablesen: Vielfach diente sie der Absicherung von Frauen und Kindern in armen Regionen. Es war ein System der Großfamilie, in der das männliche Familienoberhaupt zwar absolute Verfügungsgewalt hatte, gleichzeitig aber auch die existenzielle Verantwortung für seine Frauen und Kinder übernahm. Ein Versorgungssystem also, das nur entsprechend wohlhabenden Männern vorbehalten war. Als eine tunesische Regisseurin vor einigen Jahren einen Spielfilm mit dem Titel Harem drehte und genau diese These anschaulich bebilderte, entbrannte sofort ein Streit, der die Feministinnen auf den Plan rief. Differenzierungen solcher Art wären eben nicht erwünscht.
Jede Gesellschaftsform entwickelt Modelle, die sich den lebensnotwendigen Verhältnissen und den wirtschaftlichen Möglichkeiten anpassen, um die Fortpflanzung zu sichern. Es spricht wenig dafür, dass sich diese Strategie der Natur beim Menschen der Gegenwart plötzlich verflüchtigt hätte. Die Forderung, dass wir heute völlig frei und losgelöst von unseren biologischen Grundlagen leben sollten, ist mehr als absurd. Wir mögen sie mit dem Verstand ablehnen, einengend finden, uns dagegen auflehnen – wirksam bleiben sie dennoch. Wie sollte sich beim Menschen die Evolution gleichsam selbst überlistet haben?
Aus dem einstigen, Tabu, keine Kinder zu wollen, ist heute häufig das Tabu geworden, zum uneingeschränkten Kinderwunsch zu stehen. Kinderreiche Familien, müssen sich Sätze gefallen lassen wie »Haben die denn keine anderen Hobbys?« oder: »Die vermehren sich ja wie die Kaninchen!« Sex mit darauffolgender Schwangerschaft? Wie rückständig, wie altmodisch! Genauso, als wäre das jetzt unsere wahre Natur.
Dabei geht mehr verloren als der Nachwuchs. Intensive Gefühle beispielsweise; die dafür sorgen, dass man sich innerhalb der Familie aufeinander verlassen kann, auch Gefühle wie Liebe, Treue, Solidarität und Loyalität. Übrig; geblieben ist lediglich eine rasch wechselnde Empfindungswelt, die unverbindlich bleibt. Sie kennt weder Dauer noch Verpflichtung oder Verantwortung. Als Basis zur Gründung einer Familie reicht sie nicht aus.
Und so laufen alle derzeit herrschenden Vorstellungen darauf hinaus, das Elternwerden unter den vielfältigsten Vorwänden hinauszuschieben. Man vertagt es aus Furcht vor Lasten und Mühen, ohne zu bemerken, dass gerade Kinder oft jene Kraft schenken, die die Unannehmlichkeiten überwinden hilft. Wir gewähren den Kindern nicht die Zeit, auf die Welt zu kommen. Wir sind abgelenkt durch uns, unser Tun, durch Pläne, Eile und manchmal auch Zerstreuungen. Ein Kind, das zur Entfaltung eines: Paares beitragen kann, wird vertagt. Dabei kann man häufig beobachten, dass erst mit einem Kind positive Eigenschaften zum Vorschein kommen, die vorher ungenutzt schlummerten. Frauen verlieren oft ihre Ichbezogenheit, sind bereit, vorbehaltlos zu lieben, wenn sie ihr Baby im Arm halten, Männer spüren eine nie gekannte Verantwortungsbereitschaft und Nachgiebigkeit.
Doch so, wie viele zögern, Eltern zu werden, zögern noch mehr, überhaupt eine Ehe einzugehen. Häufig heiraten Paare nach vielen Jahren des Zusammenlebens und trennen i sich dann kurz danach wieder. Warum? Vielleicht, weil die Heirat nicht zum richtigen Zeitpunkt stattfand, weil sie zu lange verschoben wurde. Unsere Vernunft rät uns zur Skepsis, unser Verstand zeigt uns lauter Risiken auf. Das kann verhängnisvoll sein, weil uns unsere Unentschlossenheit stetig verunsichert und wir irgendwann gar nicht mehr fähig sind, lebensbejahende Entscheidungen zu treffen. Möglicherweise gilt für die vertagte Ehe und das vertagte Kind, was auch für die Lernprozesse in der Kindheit zutrifft, nämlich, dass alles zu seiner Zeit zu geschehen hat. Wenn ein Kind nicht in dem entsprechenden Entwicklungsabschnitt zu laufen, zu sprechen und zu schreiben gelernt hat, wird es später außergewöhnliche Probleme bekommen, dies nachzuholen.
Auszug aus dem Bestseller Das Eva-Prinzip von Eva Herman, erschienen 2006
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