Teil 12: Der hohe Preis der Emanzipation
Eva Herman
Wie stark diese Thesen der Feministinnen in das Leben vieler Frauen eingriffen, wurde mir bewusst, als ich vor einiger Zeit Birgit traf. Als ich sie kennen lernte, war sie Anfang zwanzig gewesen und ich vielleicht zwölf oder dreizehn. Es war auf der Geburtstagsfeier meiner Freundin Conny, gerade wurden die Kerzen auf der Geburtstagstorte angezündet, als Birgit damals hereingeschneit kam, Connys Cousine aus Frankfurt. Birgit mit der lila Latzhose und den frechen Sprüchen. Feuerrot leuchteten ihre Haare, und statt artig »Guten Tag« zu sagen, warf sie sich breitbeinig auf einen leeren Stuhl und sagte: »Was’n das für eine müde Party hier?«
Wir waren sprachlos. Solche Frauen kannten wir zu dieser Zeit nicht, so etwas gab es einfach nicht in unserem kleinen Ort im Harz. Bücher wie Brave Mädchen kommen in den Himmel. Böse kommen überall hin waren noch nicht geschrieben. Wir sahen uns betreten an. So etwas machte man doch nicht, so etwas durfte man doch nicht, oder? Aber im Grunde unseres Herzens fanden wir Birgit unwiderstehlich – und hätten wohl alles darum gegeben, um unsere braven karierten Faltenröcke und unsere weißen Kniestrümpfe gegen ihre ausgebeulte Latzhose einzutauschen, gegen das verwaschene Ringel-T-Shirt und die Gesundheitslatschen, in denen sie trotz des kühlen Wetters barfuß lief. Pippi Langstrumpf war erwachsen geworden! Eine Außerirdische war das! Und zwar eine sehr vergnügte Außerirdische.
Statt Torte zu essen, zündete sich Birgit eine Zigarette an. Der nächste Schock; »Kennt ihr den neuesten Spruch?«, fragte sie uns. »Als Gott den Mann erschuf, übte sie nur.« Es dauerte eine ganze Weile, bis der Groschen fiel. Dann erzählte sie, dass sie gerade auf einer Demo gewesen sei, dass sie ein bisschen studierte und nebenbei in einer Kneipe jobbte! Sie wohne in einer WG, vor allem aber betonte sie, dass sie »emanzipiert« sei. Emanzipiert? Wir hatten nur eine höchst vage Vorstellung, was es damit auf sich haben könnte. Aber Birgit erklärte es uns auch ohne weitere Aufforderung: Die Männer seien alle elende Machos; Frauen müssten ihr Leben selbst in die Hand nehmen, deshalb dürften sie niemals heiraten. Und» mit einem Blick auf die Geburtstagstorte: »Oder denkt ihr im Ernst, dass ich studiere, damit ich mich später hinstelle und so eine dämliche Torte backe?«
Das alles ereignete sich Anfang der siebziger Jahre. Was wir nicht ahnten. Weltweit hatte der »Feminismus seinen Kampf begonnen. Nicht dort, wo wir lebten, nicht in den Durchschnittsfamilien, sondern an den Universitäten und in der Medienöffentlichkeit. Die Gesellschaft war im Aufbruch. Speziell in Deutschland trat eine neue Generation an, die sich vom Schatten des Dritten Reichs befreien wollte, die nach neuen Lebensformen und neuen Werten suchte.
Schließlich war die Vatergeneration gescheitert, so sah man es jedenfalls. Hatten die wenigen Väter, der Achtundsechziger-Generation, die heil aus dem Krieg heimgekehrt waren, nicht »Hurra« geschrien, als Hitler sein Programm verkündete? Oder, geschwiegen? Auch die Mütter taugten scheinbar nicht mehr als Vorbild. Waren sie nicht allesamt sturzspießige Hausfrauen und ergebene Dienerinnen ihres Mannes und ihrer Familien? Hatten sie nicht »dem Führer Kinder geschenkt«, anstatt eigene Bedürfnisse zu entwickeln? War es nicht an der Zeit, etwas Neues auszuprobieren?
Birgit war völlig erfüllt von diesen Ideen. Wer weiß, ob sie die Bücher von Simone de Beauvoir überhaupt gelesen hatte, doch das war gar nicht nötig, denn deren Thesen waren schon Allgemeingut geworden in den Frauengruppen, an denen sie teilnahm. Von nun an war Birgit das Gesprächsthema Nummer eins für uns. Wir waren alle mit der, Vorstellung aufgewachsen, dass wir einen guten Schulabschluss machen sollten, vielleicht auch arbeiten, aber dann heiraten und Kinder bekommen würden. Gerade begannen wir, uns für Jungen zu interessieren, wir lasen heimlich Bravo und erfuhren, wie man flirtet und was ein »Schmetterlingskuss« ist. Aber offenbar gab es noch andere Möglichkeiten, etwas aus seinem Leben zu machen. Und die klangen höchst verlockend.
Durch einen Zufall traf ich Birgit vor ein paar Jahren wieder. Sie war Journalistin geworden und hatte einen Interviewtermin mit mir vereinbart. Erst als wir uns gegenüber saßen, erkannte ich sie und sprach sie darauf an. Doch, sie erinnere sich dunkel an den Geburtstag ihrer Cousine Conny, war ihre Antwort. Fast dreißig Jahre waren seitdem vergangen. Birgit war jetzt Mitte fünfzig, ihr Haar war immer noch feuerrot, doch stoppelkurz, sie trug einen grauen Nadelstreifenanzug und Herrenschuhe, von ihrer einstigen Munterkeit und von ihrem Optimismus allerdings war nicht viel übriggeblieben. Sie wirkte müde. Nachdem wir ihre vorbereiteten Fragen abgearbeitet hatten, befragte ich sie. Es interessierte mich, wie es ihr ergangen war.
Zunächst klang alles nach einer Erfolgsgeschichte. Sie hatte ihr Studium mit dem Staatsexamen beendet, eine Weile als Lehrerin gearbeitet, und als ihr das zu langweilig geworden war, hatte sie bei einer Zeitung angefangen. Jetzt war sie als freie Journalistin tätig und hielt sich ganz gut über, Wasser, wie sie sagte, auch wenn immer mehr junge Kollegen auf den Markt drängten. »Und sonst?«, fragte ich. Mit großen Augen sah sie mich an. »Was sonst?« Ihr Ton war gereizt. »Na ja, privat. Hast du einen Mann? Eine Familie?« Sie sah mich mitleidig an. »Nee, das wollte ich doch nie. In den Eheknast hat mich keiner gekriegt.« Sie lächelte stolz.
Auf mein hartnäckiges Nachfragen hin veränderte sich das Bild. Feste Beziehungen hatte sie nie gehabt, nur einmal war sie für ein paar Monate zu einem Mann gezogen, hatte jedoch schnell wieder die Flucht ergriffen. »Es wurde mir zu eng«, erklärte sie. »Schon bald nahm er Pascha-Allüren an. Ich wollte frei sein.« Und plötzlich sagte sie: »Das ist eben der Preis. Ich bin immer wählerischer geworden, und jeder Mann hat doch irgendeine Macke. Ich bin lieber einsam, als dass ich Kompromisse mache. Und wenn mir die Decke auf den Kopf fällt, verreise ich. Nächste Woche fahre ich zu einem Yogakurs auf Kreta.«
Einsamkeit. Das war es. Birgit wirkte einsam. Und ich spürte, dass kein Yogakurs und kein noch so spannendes Berufsleben diese Verlassenheit vertreiben konnte. Bevor wir uns verabschiedeten, fragte sie mich noch nach meinem Privatleben. »Ganz konventionell«, sagte ich. »Mann und Kind, steht ja in jeder Zeitung.« Sie seufzte. »Dich hat es immer in die Ehefalle gezogen, du Ärmste.«
Sie erhielt keine Antwort von mir. Am liebsten hätte ich ihr gesagt, welch ein Irrtum der ewige Kampf gegen die Männer sei, wie schön es sei, sich als Frau zu fühlen, und dass ich überglücklich sei, Mutter zu sein. Doch das wäre eine Provokation gewesen; vielleicht hätte es Birgit sogar traurig gemacht. Sie wirkte verloren, beinahe verstört, einen Lebensmittelpunkt schien sie nicht zu haben. Stattdessen sagte ich nur: »Ich habe das so gewollt.«
»Frauen wie du sind ein Schlag gegen das, was wir erreicht haben!«, brauste Birgit mit einem Mal auf. »Wir sind dafür auf die Straße gegangen, dass ihr jüngeren Frauen es besser habt. Und was macht ihr? Kinder, Küche, Kirche! Ihr verratet die Frauenbewegung!«
Unser Abschied war kühl. Leider. Aber ich wusste, dass keine Diskussion und kein Argument. Birgits Lebenssituation mehr ändern konnte. Sie hatte sich längst entschieden und es war eine Straße ohne Wiederkehr.
Ihre Angriffslust machte mich allerdings nachdenklich. »Ihr« und »wir« – was heißt das eigentlich? Warum tat Birgit so, als hätte sie persönlich etwas für mich getan? Warum ließ sie nicht ändere Vorstellungen zu? Und was hatte sie in die Waagschale zu werfen? Ihr eigenes Leben? Nicht eine Sekunde hätte ich mit ihr tauschen mögen. Die Bilanz ihres Daseins war eine Wirklichkeit als einsame Frau, die in der Endlosschleife aus Arbeit und Zeitvertreib steckte. Sie hatte ihr Ziel erreicht, sie hatte alles getan, was Frauen wie Simone de Beauvoir und Alice Schwarzer verkündet hatten. Doch war sie damit glücklich geworden?
Wofür das alles? Was hatte sie sich dauerhaft aufgebaut? Selbst von einer gelungenen Karriere konnte man nicht sprechen, denn sie hatte ja erwähnt, dass mittlerweile jüngere Kollegen die Redaktionen eroberten. Was würde übrig bleiben, wenn sie nicht mehr arbeitete? Wie würde ihr Alter aussehen? Wo waren ihre Mitstreiterinnen von einst, wo war dieses »Wir« …?
Auszug aus dem Bestseller Das Eva-Prinzip von Eva Herman, erschienen 2006
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