Wer wir waren
Eva Herman
Unsere schöne Welt bricht zusammen. Und viele tun immer noch wie Tulpe: Is was? Ist doch alles geschmeidig, oder? Die Systeme gehen kaputt, und wir stehen wohlig schaudernd davor. Die Wohnung ist geheizt, der Kühlschrank voll. Noch sind wir safe, auch wenn andere schon ganz schön strampeln müssen. Aber wie lange geht das noch so? Was ist überhaupt los? Was sollen wir denn erkennen? Wer nimmt uns an die Hand und weist den Weg?
Ein großer Verlust für die philosophische Welt dürfte der 2016 verstorbene Roger Willemsen sein. Nein,es ist sogar für uns alle ein Jammer, dass er so früh gehen musste. Er war wohl der letzte große Denker Deutschlands, den wir zu betrauern haben, dessen kühne Weltbilder ein für allemal beendet sind.
Roger Willemsen gehört durchaus in die Riege der ganz großen, längst verblichenen Genies, auf die sich deutsche Kulturisten heute stolz gerne noch berufen wollen. Doch vorbei, vorbei. Sie sind schon lange fort, und nun ist auch einer der letzten Großen unserer Zeit gegangen. Angesichts des dramatischen Niedergangs unserer Gesellschaft, unserer sterbenden Welt, einer Welt von Nicht-Mehr-Lesen-Könnern, Nicht-Mehr-Denken-Könnern, Keine-Zusammenhänge-Mehr-Erkennen-Könnern, darf es deswegen wohl nicht verwundern, dass uns jetzt auch Willemsen genommen wurde. Denn was wollte er hier noch, so elend alleine in Geist und Wesen, fast abnorm:
Der einsame Wanderer zwischen den Welten, der jetzt, im Jenseits, eventuell viel bessere Kontakte zu pflegen hat zu gleichartig gesponnenem, feinstofflichem Kollegium, als es hier auf Erden jemals möglich gewesen war.
Der außergewöhnliche Denker war gerade sechzig Jahre alt gewesen, als er die Erde verließ. Sein letztes, außergewöhnliches Büchlein Wer wir waren hat er nicht so verfasst, wie es kürzlich erschien. Die Herausgeberin Insa Wilke schreibt im Nachwort: »Roger Willemsen hat dieses Buch nie geschrieben. Als er von seiner Krebserkrankung erfuhr, legte er den Stift zur Seite und zog sich aus der Öffentlichkeit zurück. Er tat dies so konsequent, wie er von jeher schrieb, sprach und handelte, dem eigentlichen Leben noch im Sterben zugewandt, wie man es von ihm als Schriftsteller, Denker und Redner kannte.« Doch vorgehabt hatte er es gewiss, das Buch zu schreiben.
Ich selbst kannte Roger Willemsen für ein paar Jahre recht gut, wir hatten in so manchem Projekt zusammengearbeitet, danach war der Kontakt, bis auf flüchtige Grüße, abgebrochen. Seine von der Herausgeberin beschriebene Vorgehensweise, sich auf den nahenden Tod vorzubereiten, passt völlig ins Bild: Roger Willemsen war immer ganz und gar, niemals halb oder halbgar.
Seine Gedankenmodelle über den Sinn des Lebens und Sterbens waren elegante Luftschlösser, doch aus bestem Realitäten-Gestein, fliegende Phantastereien-Phantome, die stets auf wohlig-erdigem Grund landeten. Er begleitete, betreute den Mitdenkenwollenden, ließ ihn nicht aus den Augen, zuweilen im Wonnelustgefühl ihn mittragend, sich mit ihm in Ekstase steigernd,- aber ab und zu ließ er uns auch niederkrachen aus dem Wolkengespinst, ganz plötzlich ließ er uns unsanft landen, damit wir erkannten: Wieder mal nicht aufgepasst. Wurzeln und Flügel zugleich, er schenkte sie uns, wenn wir darum baten, er besaß sie selbst: Diese Existenz hieß Roger Willemsen.
Zum Glück hatte der Autor die Idee zu Wer wir waren vor seiner Krankheitsinformation gehabt. Der Philosoph, er ist einer der wenigen, der diesen Titel zu recht trug, hatte einen Text hinterlassen, der offenbar als Grundgerüst, als »erster Test für die Gedanken, die ihn im Zusammenhang mit seinem Buchvorhaben beschäftigten«, gesehen werden darf: Seine Dankesrede am 18. Juni 2015 in Düsseldorf, im Rahmen der Verleihung der Ehrengabe der Heinrich-Heine-Gesellschaft an ihn.
Drei verschiedene Entwürfe dienten als Grundlage für das kleine Buch, welches gleichzeitig ein mächtiges Gedankenkonstrukt, ein abgeklärtes Weltbild, eine gleichermaßen auch düstere Zukunftsvision unseres sterbenden Planeten, der untergehenden Menschheit, ist. Wer mutig genug ist, sich der Wirklichkeit zu stellen, der soll nur loslesen, und er wird Wer wir waren nicht mehr aus der Hand legen, bis er fertig ist mit den leider nur 56 Seiten.
Währenddessen wird es ihn schütteln, erschüttern, die Seele wird sich immer wieder melden unter Grimmen und Lächeln, unter Sorge und Trauer, unter Zustimmung und Verlustesangst, unter Reue, tiefstem Reueschmerz gar, und vor allem: unter Versäumnisnot. Ach, hätten wir doch nur….. Und das am besten noch rechtzeitig.
Ist alle Erkenntnis nun zu spät? So fragt man sich, wenn man folgenden Gedanken Willemsens zu folgen versucht. Da heißt es unter anderem über das Altern:
»Die Welt altert in Schüben. Wir bestimmen die Dynamik ihres Alterns mit. Gerade altert sie erheblich, denkt sich aber immer neue Bequemlichkeiten aus, geeignet, dies Altern unfühlbar erscheinen zu lassen. Woher nehmen wir nur all unser Nichtwissen? Aus der Ignoranz weniger als aus der Ironie, sie bildet eine Immunschicht des Uneigentlichen gleichermaßen vor dem Ernst der Verhältnisse wie vor der Moral der Konsequenz.«
Woher nehmen wir nur all unser Nichtwissen? Bei all seinen sich selbst bewussten wie absichtlich unbewussten Gedankenflügen war es stets erkennbar die Tugend der Demut, die den großen Geist unserer Zeit namens Willemsen regelmäßig überkam, ihn durchwirkte und schließlich verstummen ließ. Je mehr er wusste, um so klarer schien es ihm, wie wenig er doch wusste. Daraus machte Willemsen keinen Hehl, auch wenn er hochintelligent mit seinen eigenen Geistesergüssen regelmäßig kokettierte: Der Herr betrachtet ergeben seinen Sklaven und neigt das Haupt.
In diese Kategorie fällt auch die Sicht des verstorbenen Denkers auf unsere Zukunft: »Mag die Welt auch vor die Hunde gehen, die Zukunft hat dennoch ein blendendes Image, und selbst verkitscht zu Wahlkampf-Parolen, verkauft sie sich so gut, als wäre sie wirklich noch ein Versprechen. Nichts weist darauf hin, dass wir in unserer Zukunft sicherer, gesünder, freier, friedlicher, leben werden – bequemer, das ja, effizienter, unsentimentaler, all das, aber wessen Himmel bevölkern schon die Sachwalter des Pragmatismus?«
Und dann malt Willemsen das düstere Bild von morgen, streng gerichtet an die Jüngeren, die erst noch auf den Weg müssen, doch deren Chancengebilde täglich schwindet, für die auch fraglich ist, dass sie noch etwas Sinnvolles, Gutes, Selbstbereicherndes auch, je noch in der Lage sein werden, zu erreichen:
»Die Zukunft, das ist unser röhrender Hirsch über dem Sofa, ein Kitsch, vollgesogen mit rührender Sehnsucht und Schwindel. Die Zukunft der Plakate existiert ganz losgelöst von den Prognosen unseres Niedergangs. Sie ist auf die immer gleiche Weise steril. In der Kraft ihrer Ignoranz hat sie keinen Bewegungsspielraum, sie steht in sich, weshalb man auch sagen kann: Was nicht neu ist, das ist die Zukunft.«
Die Bilder, die Willemsen malt, erhalten immer buntere Konturen: »Zur letzten Jahrtausendwende schwebten Zigarettenschachteln als erleuchtete Raumschiffe durchs All, der neueste Standard von Autos und Küchengeräten, die siebte Dimension von Konsumgütern wurde durch die Verbindung zum Orbit illustriert, und man verstand: Diese Güter besuchen uns aus der Zukunft, Abgesandte aus einer kommenden Welt des Komforts.«
Abschließen möchte ich die Rezension mit mahnenden Gedanken des einstigen Freundes an uns alle, die wir angesichts einer zusammenbrechenden Welt häufig immer noch so tun, als sei ja nix: »Wir waren jene, die wussten, aber nicht verstanden, voller Informationen, aber ohne Erkenntnis, randvoll mit Wissen, aber mager an Erfahrung. So gingen wir, von uns selbst nicht aufgehalten.«
Zuerst erschienen in der Preussischen Allgemeinen Zeitung
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