„Völkerwanderung“: Vaclav Klaus über den zerstörten Frieden Europas
Sommer 2016
Eva Herman
Es ist ein bemerkenswerter Vorgang, wenn ein Staatsoberhaupt sich öffentlich zu Wort meldet, um seiner Sorge über die Zukunft Europas Ausdruck zu verleihen. Wahrlich historische Gründe sind es, warum der ehemalige tschechische Präsident Vaclav Klaus aktuell ein Buch veröffentlichte. Es heißt Völkerwanderung, und ist, so der Untertitel, eine kurze Erläuterung der aktuellen Migrationskrise. Sein Co-Autor, der Ökonom Jiri Weigl, ist als ehemaliger Chef der Präsidialkanzlei langjähriger Weggefährte des großen tschechischen Politikers. Die beiden reden Klartext, und wo sie dies nicht tun können, da stellen sie ihre kritischen Fragen in den Raum, deren Antworten sie selbst doch längst kennen, die man jedoch kaum aussprechen kann. Die Migrantenflut verändert Europa schlagartig.
Jeder normal denkende Mensch muss sich doch fragen, warum die vielen Millionen Menschen plötzlich, wie auf Knopfdruck, im Sommer 2015 losliefen: „Bislang fiel es Migranten ausgesprochen schwer, große Distanzen zu überwinden. Heute, unter dem Einsatz moderner Verkehrs-und Kommunikationstechnik und angesichts eines höheren Lebensstandards selbst in relativ armen Ländern, ist es viel einfacher und billiger als in vergangenen Jahrhunderten, weit entfernte Ziele anzusteuern,“ so der Politiker. „Aber auch das erklärt nicht das plötzliche Anrollen einer Welle derartiger Massenmigration, die uns statt (wie früher) mit Tausenden oder Zehntausenden Flüchtlingen schon heute mit Hunderttausenden und morgen vielleicht sogar mit Millionen von Menschen konfrontiert. Dieser Quantensprung ist es, der uns so besorgt.“
Schon im Vorwort wird klar, wie groß Klaus` Sorge um Europa ist: „Die fortgesetzte und massenhafte, leider noch lange nicht auf ihrem Höhepunkt angekommene Migrationswelle ist nur mit den früheren Invasionen „barbarischer“ Völker in die antike Welt vergleichbar. Kultur und Zivilisation des damaligen Europa wurden in einem so unvorstellbaren Ausmaß destabilisiert und zurückgeworfen, dass es mehrere Jahrhunderte dauerte, bis die Folgen überwunden waren.“
Doch heute ist es nicht nur schlimmer, sondern auch aussichtsloser, daraus macht der ehemalige tschechische Präsident keinen Hehl. Denn er spricht Europa jeglichen Verteidigungswillen, welcher frühere „Invasionen“ doch stets kennzeichnete, völlig ab: „Denn es werden ja bereits die Vertreter der These diffamiert, dass es überhaupt noch etwas geben könnte, das es zu verteidigen lohnt.“ Dies scheint tatsächlich nicht gewollt, da offenbar ein „ganz anderer Wille“ existiere. „Das Europa der Integration ist von lauter weltfremden und heuchlerischen humanistischen Ideen durchdrungen, von denen wir die zwar modischen, in ihren Folgen aber selbstmörderischen Ideologien des Multikulturalismus und des `Human Rightismus` für die gefährlichsten halten.“
Klaus und Weigl nennen die wahren Schlepper-und Schleuserbanden, durch deren weltweite Netze überhaupt erst die Migrantenströme möglich wurden: „Ja, der Migrantenschmuggel nach Europa ist ein großes Business (…) Der Migrantenstrom wurde zwar nicht ausgelöst, aber wird mächtig befeuert von professionellen oder kurzfristig angelernten Schleppern, von Menschen, die seit langer Zeit von der Schattenwirtschaft, wenn nicht vom organisierten Verbrechen leben. Sie sind es, die für all die Verkehrsmittel, die Anleitungen in verschiedenen Sprachen, die Landkarten sowie die Reklameprospekte über das schöne Leben in Deutschland und den anderen europäischen Ländern sorgen.“ Umtriebig seien sie, blitzschnell, viel schneller als der Staat könnten sie reagieren auf alle Anlässe und Stimuli.
Natürlich sorgen sich viele Menschen in den europäischen Ländern. Doch nur wenige trauen es sich offen auszusprechen. Ganz anders die Mächtigen des EU-Abendlandes: „Es ist aber auch wahr, dass ein einflussreicher Teil der europäischen Eliten diese neuzeitliche Völkerwanderung begrüßt und bereit ist, sie zu ihren Gunsten zu nutzen.“ Und diese Leute seien es auch, auf die der primäre Impuls zurückgehe. Welcher Impuls? Welches Signal? Es sind die Namen Angela Merkel und Joachim Gauck, die dem Leser auf S. 24 entgegenbrennen: Diese beiden „forderten die Migranten direkt zum Einmarsch nach Europa auf“. Es sei „die Verantwortungslosigkeit der europäischen Politik mit Angela Merkel an der Spitze“, welche die neue Völkerwanderung zusätzlich anfeuere.
Nicht nur die Briten und Amerikaner machen inzwischen Deutschland für die Zerstörung Europas verantwortlich, auch Vaclav Klaus stellt fest: „Die Hauptrolle (neben den kosmopolitischen Intellektuellen Europas mit ihrem traditionellen Hang zu abstrakten politischen Idealen, die mit einer totalen, nahezu rousseauschen Interesselosigkeit an konkreten menschlichen Schicksalen einhergehen), die Hauptrolle aber spielte zweifellos die deutsche ´Migranten-Mama` Merkel mit ihrem obamahaften Schlachtruf ´Wir schaffen das`!“
Bei manchem Leser wird Wut, Hoffnungslosigkeit sich ausbreiten beim Lesen dieser Schrift. Doch angesichts der größten Invasion seit Menschengedenken mahnt Vaclav Klaus, trotzdem nicht mit dem Finger auf andere zeigen: „Manche Menschen bei uns und anderswo in Europa ärgern sich über die Migranten, ärgern sich über das Land, aus dem die illegalen Migranten kommen, und sie ärgern sich über jene relativ ruhigen und prosperierenden Staaten, die ihre migrierenden Nachbarn nicht bei sich aufnehmen, sondern so schnell wie möglich weiterschicken. Das ist eine irrtümliche und noch dazu ganz unproduktive Ansicht. Wir sollten uns vor allem über uns selbst ärgern.“
Es ist der Anpassungsdruck, die vorauseilende, bedenkenlose Erfüllung politisch angesagter Forderungen, die so viele Bürger ergriffen hat, und die eine sachliche, ergebnisoffene Diskussion von Beginn an nicht möglich machte und uns in diese Situation erst brachte. Es ist der verdammt kurze Zeitraum, indem sich Europa jetzt völlig verändert. Es ist das Problem der „Auswirkungen einer so hohen Zuwanderung auf die Kohärenz der europäischen Gesellschaft, auf das gesamte europäische Lebensgefühl und auf die Sicherheit von Millionen ´Alt-Europäern`“. Es komme zu einem Bruch mit den traditionellen Werten und Bräuchen der in Europa lebenden Menschen. Und es „kommt zur Entstehung und Verbreitung von ganz normalen menschlichen Ängsten, die seit einigen Monaten unbestreitbar zum europäischen Lebensgefühl gehören.“
Die Massenmigration wird das bisherige Gleichgewicht der europäischen Gesellschaft ins Wanken bringen, so der Staatsmann. „Wie oft ist es schon in den zurückliegenden fünf Jahrzehnten zu keiner echten Integration von Migranten gekommen! Wie ist es angesichts dieser Tatsache möglich, hartnäckig davon zu träumen, dass uns die Zukunft – mit Migranten aus Syrien, Afghanistan, Somalia und anderen Ländern – im Unterschied zu unseren bisherigen Erfahrungen, wundervolle Verhältnisse bescheren werde?“
Wer es bislang noch nicht wahrhaben wollte: Europa kann das alles nicht verkraften! Wer sich die Sache immer noch schönreden will, dessen Erwachen wird heftig werden. Man muss Vaclav Klaus dankbar sein für diesen bemerkenswerten Mut (der Verzweiflung) zur Wahrheit!
Dieser Artikel erschien zuerst in der Preussischen Allgemeinen Zeitung
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