Teil 8: Strategien des Glücks
Eva Herman
Die Verantwortung, die unsere Politik und auch wir als Gesellschaft für unsere Kinder haben, ist gar nicht zu überschätzen, doch die Gratwanderung im Bemühen, alles richtig zu machen, ist äußerst schwierig. Die Fragen, die wir uns stellen müssen, lauten: Wie nehmen wir die Verpflichtung für unsere Kinder in der Zukunft wahr? Was möchten wir ihnen vermitteln? Wie viel Sicherheit und Selbstbewusstsein können und müssen wir ihnen mit auf den Weg geben? Dürfen wir das Risiko eingehen, sie emotional verwahrlosen zu lassen? Dürfen wir ihnen verwehren, in der Familie Bindungsqualitäten zu erleben, die später ihre gesamten Beziehungen prägen werden? Wollen wir distanzierte, emotional kühlere Beziehungen oder ein herzliches, liebevolles, fürsorgliches Miteinander? Wie soll unsere Gesellschaft aussehen? Unsere Zukunft?
Es sind Fragen; die jeden Menschen nachdenklich machen sollten. Und ich möchte allen Müttern und Vätern ans Herz legen, genau abzuwägen, ob es wirklich unabdingbar ist, dass beide Elternteile kurz nach der Entbindung wieder arbeiten gehen müssen. Ist der wirtschaftliche Druck tatsächlich so hoch? Oder ist es nicht vielmehr die öffentliche, gesellschaftlich anerkannte Meinung, durch die wir uns leiten lassen?
Eine Mutter, die sozial gut eingebettet ist, also über, ein Umfeld verfügt, das sie in der Betreuung unterstützt, sollte sich dreimal überlegen, ob sie ihr Kind in den ersten, prägenden Jahren nicht lieber zu Hause großzieht oder ob sie es wirklich in eine vielleicht ungewisse Umgebung abgibt. Immerhin ist in Westeuropa und in den USA eine Umorentierung hin zu ursprünglichen Modellen bereits sichtbar.
Rooming-in, Hausgeburten und Stillen nach Bedarf sind, wenn auch langsam, wieder auf dem Vormarsch. Immer mehr Eltern versuchen, sich von überkommenen Erziehungsvorgaben zu lösen und ihren eigenen Weg zu finden, jenseits von starren Theorien.
Der Hamburger Soziologe Heinz Bude, Experte auf dem Gebiet der gesellschaftlichen Entwicklungen in Deutschland, schrieb 2003: »Es ist vielen klar, dass die Bundesrepublik nach dem Ende ihrer glücklichen Zeit auf die Haltekonstruktionen des Sozialstaates nicht mehr bauen kann. Deshalb nimmt der Bedarf an Selbstverantwortung und Eigeninitiative zu. Das ist der Kern des Bürgers. Er ist für sich selbst verantwortlich. Zu den alten und neuen Tugenden gehören Sitte, Höflichkeit, Disziplin, Respekt und Familienstolz.«
Emotionen haben uns seit jeher geleitet. Sie sind gewissermaßen die für uns hörbaren Töne, die das Orchester unserer Instinkte erzeugt. Wenn dieses Orchester aufspielt, so läuten bei uns alle Glocken. Das Lied, das aufgeführt wird, ist von der Natur komponiert. Und es ist einfach. Nach Millionen Jahren der natürlichen Anpassung sind aber nur die Noten übriggeblieben, die dem Leben und dem Überleben dienen. Mütter und auch Väter sollten deshalb in sich hineinhorchen und sich durch ihr inneres Gefühl leiten lassen. Es handelt sich nicht um naive. Naturromantik, um ein einfaches »Zurück zur Natur«, wenn hier die Wichtigkeit der Nähe und Intensität zwischen Mutter, Vater und Kind, als unser natürliches Erbe hervorgehoben wird.
Wir sollten heute sehr sorgsam abwägen, wie wir unser Leben gestalten möchten, welchen Stellenwert wir unseren Kindern geben wollen und welche Glücksversprechen damit verbunden sind. Einen individuellen Entwurf zu finden ist die Herausforderung an jede Mutter und jeden Vater.
Wir haben durchschnittlich vierzig Jahre Zeit, um unsere beruflichen Wünsche und Ziele zu verwirklichen. Die moderne Medizin mit ihren lebensverlängernden Maßnahmen ermöglicht uns überdies eine höhere Lebenserwartung. Dagegen wirkt der Zeitraum unverhältnismäßig kurz, der uns als Mütter und Vätern bleibt, um unseren Kindern die Sicherheit und Liebe zu geben/ die sie benötigen, um stabile, gesunde und fröhliche Menschen zu werden: Auch wenn es auf diesem Weg immer wieder Momente geben wird, in denen es uns schwerfällt, allem gerecht zu werden, so wissen wir doch; dass es Millionen von Eltern in ähnlichen Situationen nicht anders ergeht. Entmutigen lassen sollten wir uns daher nicht.
Als der schwedischen Kinderbuchautorin Astrid Lindgren im Oktober 1978 in der Frankfurter Paulskirche der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen wurde, hielt sie eine eindrucksvolle Rede, die ihr zunächst untersagt worden war. Sie hätte auf den Preis verzichtet, wäre es beim Verbot geblieben. Der Titel ihres Vortrags lautete: »Niemals Gewalt!« Und hiermit war nicht nur die körperliche, sondern vor allem die Verletzung der Kinderseelen gemeint. Unter anderem heißt es darin: »Blicken wir nun einmal zurück zu den Methoden der Kindererziehung früherer Zeiten. Ging es dabei nicht allzu häufig darum, den Willen des Kindes mit Gewalt, sei sie physischer oder psychischer Art, zu brechen? Wie viele Kinder haben ihren ersten Unterricht in Gewalt >von denen, die man liebt<, nämlich von den eigenen Eltern, erhalten und dieses Wissen dann der nächsten Generation weitergegeben.
Ja, aber wenn wir nun unsere Kinder ohne Gewalt und ohne irgendwelche straffen Ziele erziehen, entsteht dadurch schon ein neues Menschengeschlecht? Das in ewigem Frieden lebt? Etwas so Einfältiges kann sich wohl nur ein Kinderbuchautor erhoffen! Ich weiß, dass es eine Utopie ist. Und ganz gewiss gibt es in unserer armen, kranken Welt noch sehr viel anderes, was, gleichfalls verändert werden muss, soll es Frieden geben. Aber in dieser, unserer Gegenwart gibt es – selbst ohne Krieg – so unfassbar viel Grausamkeit, Gewalt und Unterdrückung auf Erden, und das bleibt den Kindern keineswegs verborgen. Sie sehen und hören und lesen es täglich, und schließlich glauben sie gar, Gewalt sei, ein natürlicher Zustand. Müssen wir ihnen dann wenigstens nicht daheim durch unser Beispiel zeigen, dass es eine andere Art zu leben gibt?«
Was ihr säet, werdet ihr ernten, so steht es in der Bibel. Es sind kleine Körnchen, die wir ins Erdreich legen, die Ernte jedoch wird riesig. Im Guten wie im Schlechten.
Auszug aus dem Bestseller Das Eva-Prinzip von Eva Herman, erschienen 2006
.