Namibia: der erste deutsche Völkermord im 20. Jahrhundert
von Ine Stolz
Die deutsche Kolonialgeschichte existiert im kollektiven Gedächtnis seiner Bürger kaum. Sie dauerte nur 30 Jahre und endete, als Deutschland den Ersten Weltkrieg verlor, während andere europäische Länder wie Großbritannien, Frankreich oder die Niederlande ihre weltweiten Kolonien doppelt so lange und länger ausplünderten. Etliche Massenmorde und Schandtaten wurden in der Kolonialzeit sowie davor und danach begangen, wie die Gräueltaten der Belgier im Kongo, der Franzosen in Algerien oder der Engländer in Indien, um nur ein Paar zu nennen. Aber relativieren die „Taten der Anderen“ unsere Verantwortung für das, was unsere Vorfahren in Namibia getan haben?
Vielleicht beginnt mit der Aufarbeitung der unwürdigen Gräueltaten der Deutschen im ehemaligen Deutsch-Südwestafrika eine neue Ära, in der die weltweiten Schandtaten aller europäischen Kolonialmächte gesühnt werden, indem Täter wie Opfer an einen Tisch kommen, um gemeinsam an Vergebung, Versöhnung und angemessener Widergutmachung zu arbeiten. Eine erhabene Vision.
Eine historische deutsche Schuld
Wie am 28. Mai 2021 aus allen Medien zu erfahren war, hat Deutschland seine mittlerweile 115 Jahre währende Schuld an der fast völligen Ausrottung zweier Ethnien in der ehemaligen Kolonie „Deutsch Südwestafrika“ (1884-1915) – das heutige Namibia, eingestanden – eine Art Vergangenheitsbewältigung eines kolonialen Traumas. Die Bundesregierung erkennt nach fast sechs Jahre andauernden Verhandlungen rund um Schuld und Sühne, Wortklauberei und Höhe der Geldzahlungen offiziell die begangenen Gräuel des Deutschen Kaiserreiches an Herero (auch Ovaherero genannt) und Nama als historische Schuld an. Etwa 65.000 von im Jahr 1884 insgesamt 80.000 Herero und die Hälfte der damals circa 20.000 Einwohner zählenden Nama, wurden von den Deutschen umgebracht, was Historiker als „Ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts“ bezeichnen. Die Bundesregierung wolle diese Tatsache jetzt als „Völkermord“ einstufen – der Begriff wird vom Auswärtigen Amt bereits seit 2015 für die Morde in Namibia verwendet.
Bundesaußenminister Heiko Maas hatte ursprünglich geplant, am 11. Juni 2021 zur Unterschrift des ausgehandelten Vertrages nach Namibia reisen. Auf Grund von Unstimmigkeiten in Namibia wurde der Vertag bis dato nicht unterschrieben. Nach der Vertragsunterzeichnung würde im Laufe des Jahres eine offizielle Entschuldigung seitens des deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier vor dem Parlament in Namibia folgen.1, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 17, 19, 23, 28, 29, 30
Nach dem Holocaust im Zweiten Weltkrieg, entschied sich die UN-Generalversammlung im Jahr 1948 Völkermord zum Straftatbestand zu machen. Die Konvention gilt allerdings nicht rückwirkend – also Völkermord vor 1948, weshalb sich für Deutschland aus der Anerkennung des Völkermords in Namibia keinerlei rechtliche Konsequenzen ergeben.8, 12, 24
Durch einen Fonds von 1,1 Milliarden Euro mit 30 Jahren Laufzeit, soll in Hilfsprojekte im Bereich Landwirtschaft, Landreform, ländliche Entwicklung, Wasserversorgung und Bildung – Angebote aus dem Portfolio der Deutschen Entwicklungszusammenarbeit – vornehmlich in den Gebieten der Herero und Nama investiert werden. Aus diesem symbolischen Akt ergäbe sich weiterhin keine rechtliche Pflicht auf Wiedergutmachung. Es handele sich stattdessen um eine „politisch-moralische Verpflichtung.“ 1, 5, 6, 7, 8, 11, 12, 13, 19, 28, 29, 30
„Das in Aussicht gestellte Hilfsprogramm für Namibia in Höhe von 1,1 Milliarden Euro ist Entwicklungshilfe und hat mit Reparationen überhaupt nichts zu tun“, heißt es von Seiten der Kritiker. 4, 5, 14
„Ich bin froh und dankbar, dass es gelungen ist, mit Namibia eine Einigung über einen gemeinsamen Umgang mit dem dunkelsten Kapitel unserer gemeinsamen Geschichte zu erzielen“, so der deutsche Außenminister Heiko Maas, der nach Namibia reisen wolle, um die bilateralen Verträge zu unterzeichnen. „Unser Ziel war und ist, einen gemeinsamen Weg zu echter Versöhnung im Angedenken der Opfer zu finden.“ 1, 5, 6, 8, 10, 12, 19
2016 war der Deutsche Bundestag, als er das Massaker 1915/16 im osmanischen Reich an den Armeniern als Genozid bezeichnete, stark unter Beschuss geraten. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan konterte daraufhin, doch lieber vor der eigenen Türe zu kehren, als andere zu beschuldigen und verwies auf den ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts. Noch im selben Jahr wurden die Gräueltaten in Namibia zum ersten Mal als Völkermord eingestuft. Im gleichen Atemzug distanzierte man sich allerdings von etwaigen Reparationszahlungen und wies diesbezüglich auf die bereits geleistete massive deutsche Entwicklungshilfe für Namibia hin. Laut FAZ seien in den vergangenen 30 Jahren circa eine Milliarde Euro Entwicklungshilfe von Deutschland nach Namibia geflossen, der höchst gezahlte pro Kopf Betrag in ganz Afrika. „Trotz all der Entwicklungshilfe, die Deutschland in das Land gepumpt hat, ist Namibia noch ärmer geworden. Auch die Herero und Nama sind ärmer geworden.“, sagen die Kritiker. 4, 6, 14
Während die namibische Regierung die nun erfolgte Anerkennung der Verbrechen durch Deutschland als einen ersten Schritt in die richtige Richtung bezeichnete, kam harsche Kritik seitens der größten Oppositionspartei Popular Democratic Movement (PDM), die von einer Beleidigung Namibias sprach. „Wenn Namibia Geld von Deutschland erhält, sollte es an die traditionellen Anführer der betroffenen Gemeinschaften gehen statt an die Regierung“, hieß es seitens der Partei Landless People’s Movement (LPM). Die Oppositionsparteien verlangen nach wie vor Reparationszahlungen an die Nachkommen der Opfer. Aus Windhuk berichtete ein lokaler Mitarbeiter der Deutschen Welle, dass Mutjinde Katjiua, Generalsekretär der Ovaherero Traditional Authority (OTA), betonte, sein Verband sei gegen einen Besuch von Bundespräsident Steinmeier. Auf der einen Seite den Völkermord anzuerkennen und auf der anderen Seite keine Reparationen zahlen zu wollen, sei Doppelmoral. 1, 6, 7, 8, 9, 13, 28,30
Schon 2001 verklagten Vertreter der Herero beim Obersten Gericht des Distrikts Washington D.C. die Bundesrepublik Deutschland, die Deutsche Bank, die Reederei Deutsche Afrika-Linie/Safmarine und das Unternehmen Terex auf vier Millionen US-Dollar Entschädigung. 2003 stellte das Gericht seine Zuständigkeit in Frage, Safmarine sei nicht in ihrem Gerichtsbezirk. In New York lebende Herero reichten daraufhin dort Klage ein. Ohne Erfolg.20
Am 5. Januar 2017 gab es wieder eine Sammelklage in New York, um Verhandlungen über eine Wiedergutmachung zu erzwingen. Unter den Klägern ist Vekuii Rukoro, der oberste Häuptling des Herero-Volkes. Zusammen mit dem Ex-Sportler Barnabas Veraa Katuuo, der in den Vereinigten Staaten lebt und Johannes Isaac, dem Häuptling der Nama, zieht er gegen Deutschland vor Gericht und fordert Entschädigung für den Völkermord sowie eine offizielle Entschuldigung. Deutschland würde sich irren, zu glauben, es könne nur mit der Regierung Namibias verhandeln und die Hinterbliebenen ihrer brutal ermordeten Vorfahren außen vorlassen. Am 2. März 2018 lässt Deutschland mitteilen, dass auf Grund des Prinzips der Staatsimmunität ein Gericht in New York nicht berechtigt sei, über die Rechtsmäßigkeit staatlicher Hoheitsakte zu entscheiden.5, 6, 13, 14, 19, 22
„Völkermord verjährt nicht!“
Auch der seit 1970 in Berlin lebende Israel Kaunatjike (Ethnie der Herero), nennt die Einigung einen Skandal. Er ist Mitglied im bundesweiten Bündnis „Völkermord verjährt nicht!“ und kämpft für die Anerkennung des Genozids in Namibia. In einer Pressemitteilung vom 17. Mai 2021 wurde seitens des Bündnisses verlautbart, dass ein kaum transparentes bilaterales Regierungsabkommen nicht zu einer Versöhnung mit den Opfern beitrage. Organisationen, die die Opfer vertreten, seien von den Verhandlungen ausgeschlossen gewesen. Außerdem kritisiert das Bündnis die strikte Weigerung Deutschlands, den Genozid im völkerrechtlichen Sinn anzuerkennen und dementsprechend Reparationszahlungen zu leisten. Es gäbe keine Wiedergutmachungspflicht, heißt es da nur. Außerdem habe Deutschland während des Verhandlungsprozesses die derzeitige wirtschaftliche Notlage Namibias ausgenutzt. 4, 5, 7, 15
Eine Pressereaktion der Verbände der Herero und Nama lautet: „Wir weisen das unterzeichnete „Versöhnungsabkommen“, das ohne die Teilnahme der legitimen Vertreter der Mehrheit der Opfergemeinschaften ausgehandelt wurde, mit der Verachtung zurück, die es verdient. Es ist nicht das Papier wert, auf dem es geschrieben steht und wir fordern die Vereinten Nationen, die Afrikanische Union und die übrige internationale Gemeinschaft auf, diesen deutsch-namibischen Unsinn zurückzuweisen. Zudem rufen wir die Vereinten Nationen und die US-Regierung dazu auf, Deutschlands Massaker von 1904-07 als Völkermord und als Verbrechen gegen die Menschheit anzuerkennen.“ 15
Bereits am 11. August 2020 lehnte das Bündnis „Völkermord verjährt nicht!“ den Stand der Verhandlungen aus den folgenden Gründen ab: Um die Wortwahl der deutschen Regierung „Verheilen der Wunden“ ansatzweise möglich zu machen, bedürfe es Reparationen, die auch als solche bezeichnet würden. Die in den Medien erwähnten Zahlungen von 10 Millionen Euro seien unverschämt, respektlos und zeugten von mangelnder Sensibilität. Das Geld würde in Entwicklungsprojekte mit definierten Bereichen fließen aber Entwicklungsprojekte seien kein Ersatz für Reparationen. Projekte zur Aufarbeitung der Kolonialgeschichte sowie der Rückführung von Gebeinen blieben unerwähnt. Opferverbände seien in Konsultationen nicht einbezogen worden. Es fehle an Transparenz seitens der deutschen Regierung.16
Die Verbände und die Opposition im Parlament Namibias haben angekündigt: „Wenn der Bundeskanzler kommt oder Steinmeier, wird keiner von uns im Parlament sitzen. Er kann dann allein vor der Swapo eine Rede halten. Willy Brandt war das gute Vorbild. Er ist in Warschau auf die Knie gegangen. Warum geht Herr Steinmeier nicht an die Orte, an denen die Herero und Nama vernichtet worden sind?“ 4
Der deutsche Verhandlungsführer Ruprecht Polenz – Namibia-Sonderbeauftragter der Bundesregierung, erklärte in einem Interview der Deutschen Welle, dass trotz gegenteiliger Behauptungen in der Delegation auch Herero und Nama vertreten waren und nimmt die namibische Regierung in Schutz. „Wir können der namibischen Regierung nicht vorschreiben, diese oder jene Person in die Delegation aufzunehmen. Das wäre ein kolonialistischer Ansatz.“ Der namibische Verhandlungsführer sei ein angesehener Herero und in den Gremien seien Herero wie Nama zugegen gewesen. „Besonders laut kommt die Kritik von denen, die selbst mit am Verhandlungstisch sitzen wollten, aber von der namibischen Regierung nicht dafür ausgewählt wurden“, so Polenz. 7, 13, 19
Am 29.08.2018, ein Jahrhundert nach Ende der Kolonialherrschaft, als Deutschland den Ersten Weltkrieg verloren hatte und Deutsch-Südwestafrika an das englische Südafrika abtreten musste, kam es in Deutschland zu einer feierlichen Geste, bei der einer namibischen Delegation menschliche Schädel und Knochen ihrer Vorfahren zurückgegeben wurden. Diese Gebeine dienten im Naziregime als Grundlage für rassistische Theorien. Schon damals sagte einer der namibischen Friedensaktivisten: „Ich bin einer derjenigen, die mit am Verhandlungstisch sitzen. Wir erwarten, dass Deutschland den Völkermord zugibt. Zweitens fordern wir eine akzeptable Entschuldigung. Und darauf sollten auch Entschädigungszahlungen folgen.“ 2, 14
Bis dato hat die Bundesregierung Entschädigungszahlungen ausgeschlossen, auch eine offizielle Entschuldigung blieb aus, während auf der anderen Seite etliche tausend Klagen seitens der Nachkommen der Leidtragenden eingingen. Der Leader der Herero Vekuii Rukoro sagte 2018: „Deutschland kann weglaufen, sich aber nicht verstecken. Eines Tages wird der lange Arm des Gesetzes Deutschland einholen.“ 2
Die Historie der Kolonie des Deutschen Kaiserreiches Deutsch-Südwestafrika
Über hundert Jahre nach Ende der deutschen Kolonialherrschaft in Namibia, steht bis heute der Bahnhof von Swakopmund, eine Stadt an der afrikanischen Atlantikküste. Es ist ein „Klein Deutschland“ im südlichen Afrika, mit deutschen Straßennamen, einer deutschen „Bäckerei“ und „Konditorei“, die deutsches Brot wie Schwarzwälder Kirschtorte anbieten, deutschen Restaurants mit Hausmannskost oder der „Bismarckapotheke.“ Und Denkmäler, die die Kolonialherren ehren. Es gibt Bier nach dem deutschen Reinheitsgebot. Der Wilhelminische Baustil weist augenscheinlich auf die Kolonialzeit hin. Es wird Deutsch gesprochen. Alles scheint fest in den Händen einer wirtschaftlich privilegierten weißen Oberschicht. Nichts weist auf die Gräuel hin, die von den Vorfahren dieser Deutschen begangen wurden.3, 23, 25, 28
„Ein weiteres Nationaldenkmal ist das Marinedenkmal im Zentrum der Küstenstadt
Swakopmund. Jenes ist, wie der Tafel zu entnehmen ist, den „im Kampfe zur
Erhaltung der Kolonie gegen die Aufständischen Hereros 1904-1905 Gebliebenen des
Marine-Expeditionskorps“ gewidmet. „Ehre sei den bis in Tod Getreuen!“. Dass
dieses Kriegerdenkmal Aufgebrachtheit entfachen kann und zu Protest führt, zeigt die
Beschmierung mit roter Farbe. In gewisser Weise lässt sich dies als Aufforderung
interpretieren, den begangenen Völkermord und das Blut der „Einheimischen
Anderen“, das an den Händen der Kolonisatoren klebt, nicht weiter zu ignorieren.“ 23
Der Bremer Tabakwarenhändler Franz Adolf Eduard Lüderitz segelte 1883 ins südliche Afrika, wo er über Mittelsmänner Land kaufen konnte und den Grundstein der Kolonie in der nach ihm benannten „Lüderitzbucht“ legte, die ab April 1884 als „Lüderitzland“ unter dem Schutz des Deutschen Reiches stand. Sukzessive entstand die „Firma Lüderitz“ als erste deutsche Niederlassung. 1908 wurden Diamanten bei Lüderitz gefunden. Umgehend entstand eine Goldsucherstadt, in der Diamanten wirtschaftlich lukrativ abgebaut wurden und Lüderitz zu einem wichtigen Hafen machten. Angeblich profitierte das Deutsche Reich nur minimal.3, 14
Siedler und Landraub
Ab 1890 erreichte Namibia durch den Helgoland-Sansibar-Vertrag mit England seine heutige Größe, etwa eineinhalbmal so groß wie das damalige Deutsche Reich, mit einer sehr geringen Bevölkerungsdichte. Die Kolonie wurde umgehend gezielt mit Deutschen besiedelt. 1914 gab es circa 12.000 Siedler. Viele der großen Rinderfarmen Namibias gehören bis heute deren Nachfahren. Insgesamt gibt es bis heute noch etwa 15.000 Nachfahren deutscher Siedler. Und bis heute haben die Nachfahren der Opfer die erlebten Traumata in ihrer Seele verankert. Sie werden ihnen tagtäglich durch die Siedler gespiegelt, die sehr gut von dem geraubten Land leben. Laut einer namibischen Statistik von 2018 sind 53 Prozent des im Besitz von Ausländern befindlichen Landes – das entspricht fast 640.000 Hektar, bis heute deutscher Besitz.3, 25, 26
Eine im unabhängigen Namibia durchgeführte Landreform resultierte weder in der Rückgabe ehemals heiligem „Land der Ahnen“, noch in einer Entschädigung für den Raub an Land und Vieh. Stattdessen blieben die aus der Kolonialzeit stammenden Eigentumsrechte unangetastet. Diese ungelöste Landfrage durch die Enteignungen schreit bis heute nach symbolischer wie materieller Entschädigung. Namibiadeutsche zählen bis heute zu den reichsten Bewohnern Namibias, während die, denen Land und Vieh vor dem Raub gehörte marginalisiert am Existenzminimum dahinvegetieren. Herero wie Nama waren und sind Viehhirten. Ohne ihre Rinder gibt es für sie kein Leben. Die Tiere sind ein Zeichen von Macht und Ehre, ihr ganzer Stolz als auch eine lebende Sparkasse auf vier Beinen. Bis heute gibt es eine starke Verbindung mit dem „Land der Ahnen.“ Ohne Land verlieren diese Menschen ihre Würde. Die bis heute von den Folgen der deutschen Kolonialherrschaft profitieren, sollten sich dieser Tatsache bewusstwerden, vielleicht könne das zu einem besseren Verständnis gegenüber den Herero und Nama beitragen. Leider werden die Fakten bis heute mehrheitlich verleugnet.17, 23, 25, 27, 29
Schutzgebietsverwaltung und Aufstand der Herero
Im gleichen Jahr ließ sich die sogenannte Schutzgebietsverwaltung in ihrer Festung nieder, aus der später die Stadt Windhuk erwächst. Die native Bevölkerung wurde durch Landkäufe oder vielmehr gewaltsame Enteignung durch die Deutsche Kolonialgesellschaft ihrer Existenzgrundlage beraubt. Bald verfügten die Einwanderer über 70 Prozent der wirtschaftlich nutzbaren Fläche des Landes. Vor allem die Stämme der Herero und Nama – alles Viehhirten, verloren durch die fremde Landnahme auch den Zugang zu den wichtigen Wasserquellen für Mensch und Tier. Nach einer Rinderpest und darauffolgender Hungersnot sowie der Tatsache, dass die Siedler die Regeln des Schutzvertrages sowie die Sitten und Gebräuche der einheimischen Bevölkerung, missachteten, begann am 12. Januar 1904 die Rebellion der Herero – dieErhebung des Nomadenvolkes gegen den Verlust des Landes und der Entrechtung durch die Kolonialregierung. Ein weiterer Grund war die Morddrohung eines Oberleutnants gegen Samuel Maharero, den Oberhäuptling der Herero. 3, 14, 20, 22
Lothar von Trotha
Nachdem zu Beginn des Aufstandes 150 deutsche Siedler getötet wurden und die Schutztruppe die Revolte nicht niederschlagen konnte, wurde ein spezielles Expeditionskorps unter Leitung von Generalleutnant Lothar von Trotha nach Südwestafrika entsandt, mit dem zuvor geplanten Ziel einer „Endlösung“– des Genozids an Herero und Nama. Von Trotha hatte bereits in Deutsch-Ostafrika und beim Boxeraufstand in China Erfahrungen bei der Niederschlagung von Aufständen gesammelt. Am 11. August 1904 – der glorreichen Schlacht am Waterberg, errang von Trotha einen vernichtenden Sieg über die rebellierenden Herero. Überlebende flohen in die Trockensavanne – die Omaheke Wüste, die umgehend von den Deutschen abgeriegelt wurde. Von den wenigen dort existierenden Wassertümpeln wurden sie vertrieben und verdursteten elendig. Im Oktober lautete dann der Befehl: „Innerhalb der deutschen Grenzen wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr erschossen.“ Bis 1908 wurden circa 90.000 Herero und Nama erschossen oder erhängt. Man vergewaltigte Frauen und Kinder und ließ sie verhungern. All das war in der damaligen Denke der überlegenen weißen Herrenrasse zu Gunsten ihrer sozialen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Entwicklung unvermeidlich und durch den Sozialdarwinismus legitimiert. Man hatte es schließlich mit unterentwickelten Wilden zu tun. „Den Feind, so vermerkte es später der Generalstab des Kaiserreichs, scheuchte man wie ein halb zu Tode gehetztes Wild von Wasserstelle zu Wasserstelle, bis er schließlich willenlos ein Opfer der Natur seines eigenen Landes wurde.“ 3, 5, 10, 13, 14, 17, 20, 22, 25, 29
Dann gab es da noch die Konzentrationslager und Menschenversuche
Tausende menschliche Schädel und Gebeine, die Frauen und Kinder bis auf die Knochen von Haut und Fleisch reinigen mussten, sonst wurden sie erschossen, wurden zu medizinischen, rassistisch- pseudowissenschaftlichen Forschungszwecken, als Ausstellungsstücke für Museen oder als Dekoration im heimischen Wohnzimmer ins Deutsche Reich verschifft.14, 25
Bei einer Veranstaltung unter dem Titel „From Africa to Auschwitz“, erklärte der Anwalt der namibischen Kläger McCallion aus dem Jahr 2017, warum er in den Konzentrationslagern Südwestafrikas die Vorläufer für die Vernichtungslager der Nationalsozialisten sehe. Deutsche Ärzte hätten den Gefangenen in den Lagern giftige Substanzen wie Arsen in die Venen gespritzt, wenn sie akute Mangelerscheinungen vorwiesen. An Instituten in Deutschland habe man mit den sterblichen Überresten getöteter Herero Versuche gemacht. Die Ideologien der Nationalsozialisten zu Eugenik und Rassenhygiene wurden also bereits Jahrzehnte zuvor in den deutschen Kolonien umgesetzt. 1908 wurde eine Studie über die „Misch-Rasse“ von Eugen Fischer – physischer Anthropologe und Anatomie-Experte in Deutsch-Südwestafrika herausgebracht, die ihm zu internationalem Ruhm als führender Eugeniker verhalf. Er betonte die Gefahren, die aus „rassischer Vermischung“ resultierten. Seine Thesen, die er auf Grund von Tests an heterogenen Menschengruppen in seinen „Human-Laboren“ aufstellte, galten als zentrale Erkenntnisse in ganz Europa.3, 10, 21, 22
Mitte der 30er-Jahre unter dem nationalsozialistischen System, wurde Fischer einer der wichtigsten Eugeniker. Von 1929 bis 1942 war er Direktor des „Kaiser-Wilhelm-Instituts für anthropologische Humangenetik und Eugenik zu Berlin“ – von der Carnegie-&-Rockefeller-Stiftung finanziell unterstützt – und war an rassistischen Klassifikationen der Nazis beteiligt. Zu seinen Universitätsstudenten zählte später kein geringerer, als der für seine Experimente berüchtigte „Todesengel“ von Auschwitz – Josef Mengele.21, 22, 23
„Nachdem der Zweite Weltkrieg begonnen hatte, wurden an Fischers Institut entsprechende Blutproben und Augenpräparate geliefert, die aus Josef Mengeles Experimenten an Juden sowie Roma- und Sinti-Zwillingen in Auschwitz stammten. Was also 1908 als anthropologische Studie über „Rassen-Vermischung“ in Deutsch-Südwestafrika begonnen hatte, wandelte sich zu den menschenverachtenden Experimenten mit Häftlingen eines Konzentrationslagers in Polen.“ 21
Auch der Geist eines anderen deutschen Heimkehrers aus Namibia, Heinrich Göring – kaiserlicher Verwalter der Kolonie, lebte in seinem Nachfahren weiter, sein Sohn war tatsächlich Hermann Göring.23
Viele der begangenen Gräuel in Deutsch-Südwestafrika wie Konzentrations- oder Todeslager, medizinische Versuche an Menschen zur Rassenhygiene, Vergewaltigungen, Käfighaltung, das Verhungernlassen als Methode, setzten sich unter der Herrschaft der Nationalsozialisten in Deutschland fort – Namibia erscheint wie eine Generalprobe. Im ihrem 2017 erschienenen Buch „The Genocidal Gaze: From German Southwest Africa to the Third Reich“ macht Elizabeth Baer die Verbindung zwischen diesen beiden Genoziden deutlich. Es ist heute ein Lehrbuch an namibischen Universitäten. Die von Baer herangezogenen historischen Texte zeichnen ein klares Bild des Verhaltens der Deutschen gegenüber den afrikanischen Ureinwohnern.23
Am 30. September 2011 wurden zum ersten Mal feierlich Gebeine von 20 Herero und Nama durch eine deutsche Institution – die Berliner Charité, an ihre Nachfahren zurückgegeben. Bis heute lagern Tausende Knochen und Schädel aus Namibia, mit denen man durch menschenverachtende medizinische und anthropologische Studien und Versuche die Rassenlehre untermauerte, in deutschen Instituten, Krankenhäusern und Museen.18
Wiedergutmachung
Laut einer Entschließung des Bundestages von 1989 bekennt sich Deutschland aufgrund seiner kolonialen Vergangenheit zu einer besonderen Verantwortung gegenüber Namibia. Bundespräsident Roman Herzog bezeichnete den Vernichtungsfeldzug als eines der dunkelsten Kapitel in der Geschichte beider Staaten. Finanzielle Wiedergutmachung lehnte er ab. Die Regierung unter Helmut Kohl begann nach der Unabhängigkeit Namibias von Südafrika 1990 mit einer verstärkten deutschen Entwicklungshilfe, begründet mit der „historischen Verantwortung“. So kam die Vernichtung der beiden Ethnien in Namibia wieder auf den Tisch, allerdings kam es unter Kohl zu keinem Treffen mit Hinterbliebenen. Auch Außenminister Joschka Fischer vermied es 2004, den Ausdruck Völkermord in den Mund zu nehmen. Nur die damalige Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul ging bei einem Besuch in Namibia soweit zu sagen: „Die damaligen Gräueltaten waren das, was man heute als Völkermord bezeichnen würde.“3, 14
Bei einer Namibia-Reise des Afrikabeauftragten des Auswärtigen Amtes Anfang Februar 2012 wurde seitens vieler Organisationen und Institutionen der Zivilgesellschaft die Bereitschaft zum Dialog begrüßt und wieder einmal zur Wiedergutmachung des Völkermordes in der ehemaligen deutschen Kolonie aufgerufen, ein unverzichtbarer Schritt zur Versöhnung.18
Letzter Stand der Dinge
Am Montag, den 31.05.2021 rückten mehrere Opferverbände von dem bilateralen Abkommen ab. Das von der deutschen Regierung offerierte Angebot sei beleidigend. Vertreter der Zaraeua Traditionsbehörde (ZTA) verlangen jetzt umgerechnet 477 Milliarden Reparationszahlungen von Deutschland, zahlbar in 40 Jahren. Der ZTA haben sich die traditionellen Führer der Herero-Königshäuser Maharero, Kambazembi und Gam angeschlossen, die scheinbar bei den Verhandlungen zuvor nicht ausgeschlossen waren wie Chief Rukoro. Man verlange direkten Zugriff auf die Gelder und keine Entwicklungshilfe.29, 30„
Entweder erpresst Deutschland Namibia und sieht das Ganze als PR-Coup – oder sie sehen die namibische Regierung als Marionette.“29
Am Freitag, den 18. Juni verstarb der erbitterte Kämpfer gegen das bilaterale Abkommen Herero Chief Rukoro mit 66 Jahren in einer Klinik in Windhuk an Corona. Die Bundesregierung sprach am gleichen Tag ihr Beileid aus. Rukoro hatte sich am 16. Juni so wie einige Politiker mit dem Virus infiziert, als Namibias Parlament das unterschriftsreife Dokument absegnen sollte, welches Premierministerin Saara Kuugongelwa-Amadhila vorstellte. Auch sie ist an Corona erkrankt. Desweitern liegt der Ex-Diplomat Zed Ngavirue, der mit dem Namibia Sondergesandten Polenz das Abkommen ausgehandelt hat mit dem Virus im Hospital. 30, 31
Die Verhandlungen ruhen derzeit, allerdings lehnt Polenz Nachverhandlungen kategorisch ab. Rukoro war eine schillernde Figur und der Kampf für Gerechtigkeit sein Lebensinhalt, der ihn privat sehr viel Geld kostete. Zum Schluss brachte er, so geschehen in Zimbabwe, sogar eine Übernahme der Farmen deutschstämmiger Namibier ins Spiel. Laut Bild wünschte sich Rukoro, dass die „Trothastraße“ in Klein-Windhuk umbenannt werde, er empfände das als unerträglich. „In Deutschland heißt auch keine Straße mehr nach Adolf Hitler!“30
Zur Autorin:
Ine Stolz studierte Biogeographie – angewandte Ökologie an der Universität des Saarlandes, Agrarwissenschaften, spezialisiert auf die Tropen und Subtropen in Göttingen und promovierte in Ökotoxikologie (Wirkung von Pflanzenschutzmitteln in der Umwelt) an der Universität Basel.
Über einen Zeitraum von 25 Jahren war sie als Wissenschaftlerin, Projektleiterin und Beraterin in einem Dutzend Länder in Afrika südlich der Sahara tätig. 2016 hat sie sich aus der „Entwicklungshilfe“ verabschiedet und das Buch Alte Seele Afrika veröffentlicht. Bei Rubikon sind einige Artikel zu Afrika, Natur- und Umwelt erschienen.
Literatur:
(1)https://www.tagesschau.de/ausland/afrika/deutschland-kolonialverbrechen-namibia-101.html
(2)https://www.tagesschau.de/inland/herero-nama-gebeine-101.html
(3)https://www.tagesschau.de/multimedia/bilder/namibia-kolonialzeit-101.html
(4)https://www.berliner-zeitung.de/kultur-vergnuegen/debatte/voelkermord-namibia-herero-aktivist-aus-berlin-heiko-maas-hat-keine-ahnung-li.161817
(5)https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/deutschland-erkennt-verbrechen-in-namibia-als-voelkermord-an-li.161628
(6)https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/deutschland-erkennt-den-voelkermord-in-namibia-an-17363607.html
(7)https://www.dw.com/de/deutschland-erkennt-kolonialverbrechen-in-namibia-als-v%C3%B6lkermord-an/a-57695319
(8)https://www.welt.de/politik/deutschland/article231418041/Namibia-Deutschland-erkennt-Kolonialverbrechen-als-Voelkermord-an.html
(9)https://www.zeit.de/2021/21/genozid-herero-nama-namibia-kolonialismus-anerkennung
(10)https://www.zeit.de/politik/deutschland/2021-05/kolonialismus-deutschland-namibia-voelkermord-herero-nama-anerkennung
(11)https://www.deutschlandfunk.de/verbrechen-an-herero-und-nama-als-voelkermord-anerkannt-das.694.de.html?dram:article_id=497955
(12)https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/herero-und-nama-deutschland-erkennt-voelkermord-an,SYg8vRc
(13)https://www.nzz.ch/international/mehr-als-100-jahre-nach-seinem-vernichtungskrieg-gegen-die-herero-und-die-nama-erkennt-deutschland-die-verbrechen-als-voelkermord-an-ld.1627454
(14)https://www.genocide-alert.de/projekte/deutschland-und-massenverbrechen/herero-und-nama/
(15)https://genocide-namibia.net/2021/05/17-mai-2021-pressemitteilung/
(16)https://genocide-namibia.net/2020/08/11-08-2020-vorschlaege-der-deutschen-regierung-inakzeptabel/
(17)https://genocide-namibia.net/genocide-against-the-ovaherero-and-nama/
(18)https://www.africavenir.org/de/advocacy/deutschlands-voelkermord-in-namibia.html
(19)https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/herero-und-nama-deutschland-erkennt-kolonialverbrechen-im-heutigen-namibia-als-voelkermord-an/27235156.html?ticket=ST-5605765-LrOju46vBxzJ611jai5P-ap6
(20)http://www.gfbv.it/3dossier/africa/herero.html
(21)https://taz.de/!5614533/
(22)https://www.lr-online.de/nachrichten/politik/voelkermord-hereros-verklagen-deutschland-in-den-usa-37953164.html
(23)https://www.timesofisrael.com/genocide-of-african-tribes-was-germanys-holocaust-dress-rehearsal-says-scholar/
(24)http://www.un-documents.net/a3r260.htm
(25)https://docserv.uni-duesseldorf.de/servlets/DocumentServlet?id=55242
(26)https://d3rp5jatom3eyn.cloudfront.net/cms/assets/documents/Namibia_Land_Statistics_2018.pdf
(27)https://www.amnesty.de/jahresbericht/2018/namibia
(28)https://www.nytimes.com/2021/05/28/world/europe/germany-namibia-genocide.html
(29)https://www.bild.de/politik/ausland/politik-ausland/namibia-abkommen-in-gefahr-herero-vertreter-verlangen-477-milliarden-euro-76578450.bild.html
(30)https://www.bild.de/politik/ausland/politik-ausland/herero-voelkermord-in-namibia-haeuptling-rukoro-stirbt-an-corona-76787848.bild.html
(31)https://www.bild.de/politik/ausland/politik-ausland/corona-ausbruch-in-namibia-politiker-stecken-sich-bei-debatte-an-76751388.bild.html
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